Donnerstag, 19. August 2004
Literatur zum Heterotopie-Begriff
philo, 12:59h
Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seinem Vortrag "Andere Räume" (frz. "Des espaces autres", engl. "Of other spaces"), der zwar bereits 1967 gehalten, aber - in seiner Integralität - erst 1984 [!], quasi posthum, veröffentlicht wurde, den schillernden Begriff der Heterotopie geprägt; mit diesem Begriff bezeichnet Foucault eine eigentümliche Klasse von Orten, die im sozialen Ordnungsgefüge, das auch und vor allem ein Gefüge von Räumen ist - Foucault spricht von "Plazierungen" (emplacements) -, eine präzise Funktion wahrnehmen, diese Funktion aber zugleich transzendieren und damit unerwartete Effekte produzieren. Heterotopien haben mithin "die sonderbare Eigenschaft […], sich auf alle anderen Plazierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren". Eine gute Definition des Begriffs liefert der entsprechende Artikel von Hans J. Wulff im Filmbegriffslexikon des Bender-Verlags.
Im Rahmen der Recherche für meine Dissertation, in der der Begriff der Heterotopie eine nicht ganz unwichtige Rolle spielt, habe ich einiges an Literatur zusammentragen können, die sich explizit auf Foucault und seinen Heterotopiebegriff bezieht; eine Liste mache ich hier zugänglich:
- Baum, Patrick (2001): Heterotopie im Naturalismus. Untersuchungen zu Zolas "Rougon-Macquart", Bonn (Staatsarbeit, unveröff.).
- Borsò, Vittoria (1992): "Utopie des kulturellen Dialogs oder Heterotopie der Diskurse?", in: Hempfer, Klaus W. (Hrsg.): Poststrukturalismus - Dekonstruktion - Postmoderne, Stuttgart: Steiner, 95-117.
- Brauns, Jörg (1992): "Heterotopien", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar 3/4 , 163-169.
- Defert, Daniel (1997): "Foucault, space and the architects", in: David, Catherine/Chevrier, Jean-François (Hrsg.): Poetics/Politics. Das Buch zur Documenta X, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 274-283.
- DiMéo, Guy (1999): "Géographies tranquilles du quotidien. Une analyse de la contribution des sciences sociales et de la géographie à l'étude des pratiques spatiales", in: Les Cahiers de Géographie du Québec 43, 75-93.
- Doetsch, Hermann (1999): "Baudelaires Pariser Topographien (am Beispiel von Les Veuves)", in: Mahler, Andreas (Hrsg.): Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg: Winter, 197-228.
- Görling, Reinhold (1997): Heterotopia. Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München: Fink.
- Hetherington, Kevin (1997): The Badlands of Modernity. Heterotopia and Social Ordering, London/New York: Routledge.
- Hörster, Reinhard (1997): "Bildungsplazierungen. Räume, Möglichkeiten und Grenzen der Heterotopologie ", in: Ecarius, Jutta/Löw, Martina (Hrsg.): Raumbildung - Bildungsräume. Über die Verräumlichung sozialer Prozesse, Opladen: Leske + Budrich, 93-121.
- Mörtenböck, Peter (2003): "Relationale Terrains. Praktiken des Bewohnens und Verortens", in: ders./Mooshammer, Helge (Hrsg.): Visuelle Kultur. Körper - Räume - Medien, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 103-124.
- Relph, Edward C. (1992): "Place, Postmodern Landscapes and Heterotopia", in: Environmental and Architectural Phenomenology 3/1, 14.
- Teuber, Bernhard (2001): "Imaginatio borealis in einer Topographie der Kultur", in: Engel-Braunschmidt, Annelore u. a. (Hrsg.): Ultima Thule. Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main: Peter Lang, 173-201.
- Willke, Helmut (2003): Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ergänzungen und/oder Korrekturen sind ausdrücklich erwünscht!
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roland,
Mittwoch, August 25, 2004, 03:50
hey, kann ich sehr gut brauchen!
gerade auch in einem anderen zusammenhang, zu anderem zweck andere räume gelesen. letzter absatz steht da ja, das schiff sei die menschheits-heterotopie schlechthin, so ungefähr jedenfalls.
mich würde jetzt ja jetzt eine arbeit interessieren, die vielleicht eine motivgeschichte des schiffes (literatur, kunst, film) versucht und zumindest das heterotopie-konzept an dem beispiel selbst mal durchspielt.
ich hoffe es stört nicht, aber das waren so meine assoziationen: die voranschreitende kolonialisierung (kolonie in foucaults aufsatz ja auch eine vermutete heterotopie) und der damit verbundene effekt, aus europäischer perspektive die "weißen flecken" vom globus zu tilgen, markieren jenen zeitraum, indem sich die literarische gattung der utopie, ganz im foucaultschen sinne: als gegenwelt, um deren tatsächliche verwirklichung es gar nicht oder nur bedingt geht, sich zur uchronie wandelt, die utopie, der nun die räumlichen, imaginären verortungen langsam fehlen, in die zeit, also zukunft verlagert wird, wodurch die frage nach ihrer erreichbarkeit viel deutlicher in den vordergrund rückt.
analog dazu auch die sog. "turner-these", nach dem historiker frederick jackson turner, der 1893 den "amerikanischen nationalcharakter" daraus erklärt, dass er sich aus mitgebrauchten utopischen entwürfen und den erfahrungen an der "frontier" (der voranschreitenden eroberungsgrenze gen westen) zusammensetzt und eben gerade für dann seine zäsur , als 1890 die vereinigten staaten für "komplett besiedelt" erklärt werden. die utopische phantasie muss sich einen neuen raum erobern - "the sky is the limit" - heute noch an so popvarianten wie star trek ablesbar (ein raumschiff, das in galaxien vordringt, wo noch nie ein mensch zuvor... usw)
vgl. dazu:
frederick jackson turner bei wikipedia:
http://en.wikipedia.org/wiki/Frederick_Jackson_Turner
die "turner-these" bei wikipedia:
http://en.wikipedia.org/wiki/Frontier_Thesis
bei telepolis, aus der libertär-serie, den artikel "final frontiers":
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/libi/4811/1.html
ich weiß, dass das alles nur noch am rande mit dem foucault zu tun hat, aber in die richtung gehen gerade die sachen, mit denen ich mich beschäftige.
auch vielleicht noch interessant, ecos taxonomie der science-fiction-orte, vgl.
die welten der science fiction
http://www.uni-weimar.de/~kilian3/weltraum/texte/eco_sf.html
ob und wie man die mit foucaults konzeption vergleichen kann.
gerade auch in einem anderen zusammenhang, zu anderem zweck andere räume gelesen. letzter absatz steht da ja, das schiff sei die menschheits-heterotopie schlechthin, so ungefähr jedenfalls.
mich würde jetzt ja jetzt eine arbeit interessieren, die vielleicht eine motivgeschichte des schiffes (literatur, kunst, film) versucht und zumindest das heterotopie-konzept an dem beispiel selbst mal durchspielt.
ich hoffe es stört nicht, aber das waren so meine assoziationen: die voranschreitende kolonialisierung (kolonie in foucaults aufsatz ja auch eine vermutete heterotopie) und der damit verbundene effekt, aus europäischer perspektive die "weißen flecken" vom globus zu tilgen, markieren jenen zeitraum, indem sich die literarische gattung der utopie, ganz im foucaultschen sinne: als gegenwelt, um deren tatsächliche verwirklichung es gar nicht oder nur bedingt geht, sich zur uchronie wandelt, die utopie, der nun die räumlichen, imaginären verortungen langsam fehlen, in die zeit, also zukunft verlagert wird, wodurch die frage nach ihrer erreichbarkeit viel deutlicher in den vordergrund rückt.
analog dazu auch die sog. "turner-these", nach dem historiker frederick jackson turner, der 1893 den "amerikanischen nationalcharakter" daraus erklärt, dass er sich aus mitgebrauchten utopischen entwürfen und den erfahrungen an der "frontier" (der voranschreitenden eroberungsgrenze gen westen) zusammensetzt und eben gerade für dann seine zäsur , als 1890 die vereinigten staaten für "komplett besiedelt" erklärt werden. die utopische phantasie muss sich einen neuen raum erobern - "the sky is the limit" - heute noch an so popvarianten wie star trek ablesbar (ein raumschiff, das in galaxien vordringt, wo noch nie ein mensch zuvor... usw)
vgl. dazu:
frederick jackson turner bei wikipedia:
http://en.wikipedia.org/wiki/Frederick_Jackson_Turner
die "turner-these" bei wikipedia:
http://en.wikipedia.org/wiki/Frontier_Thesis
bei telepolis, aus der libertär-serie, den artikel "final frontiers":
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/libi/4811/1.html
ich weiß, dass das alles nur noch am rande mit dem foucault zu tun hat, aber in die richtung gehen gerade die sachen, mit denen ich mich beschäftige.
auch vielleicht noch interessant, ecos taxonomie der science-fiction-orte, vgl.
die welten der science fiction
http://www.uni-weimar.de/~kilian3/weltraum/texte/eco_sf.html
ob und wie man die mit foucaults konzeption vergleichen kann.
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roland,
Mittwoch, August 25, 2004, 03:55
ach, nochwas, kennst du eigentlich das weblog angermann2, das viele interessante links zu urbanisierungskonzepten usw. hat, etwas anstrengendes layout, deswegen les ich das über rss, hier die url:
http://www.angermann2.com/
http://www.angermann2.com/
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philosophus,
Mittwoch, August 25, 2004, 23:18
Danke!
Selbstverständlich stört das nicht, was du schreibst. Ganz im Gegenteil sehr interessant! (Und genau so stelle ich mir das blog auch vor.)
Wenn du möchtest kann ich dir einen Contributor-Account einrichten; dann könntest du hier auch thematische Beiträge posten.
Was die Schiffssache angeht: Leider habe ich da ad hoc keinen Tipp parat, aber vielleicht findest du in dem Görling (siehe meine Literaturliste) etwas dazu.
Ich werde mir mal deine Linktipps durchsehen. Nochmals danke!
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Was die Schiffssache angeht: Leider habe ich da ad hoc keinen Tipp parat, aber vielleicht findest du in dem Görling (siehe meine Literaturliste) etwas dazu.
Ich werde mir mal deine Linktipps durchsehen. Nochmals danke!
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roland,
Donnerstag, August 26, 2004, 18:03
ja, mach mich doch zum contributor, dann poste ich sicher was ab und an (hab auch grad noch was auf halde)
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